Nicht bloß provisorische Abstellfläche, sondern ein Zeremonialraum für Fahrzeuge: Der Rathausplatz von Ingolstadt um 1960, DOM Publishers
Zur Feier des Autos
FAZ, 09.06.2023
Schlachtfelder der Nachkriegsmoderne: Ulrich Brinkmann legt eine Sammlung von Postkarten deutscher Städte vor. Sie zeigen, wie der urbane Raum zwischen 1949 bis 1989 für den Verkehr zugerichtet wurde. Von Michael Mönninger
Nicht bloß provisorische Abstellfläche, sondern ein Zeremonialraum für Fahrzeuge: Der Rathausplatz von Ingolstadt um 1960, DOM Publishers
Auf Entwürfen für Bauwettbewerbe nach 1945 lösen sich Gebäude und Straßen immer mehr in kybernetische Regelkreise und abstrakte Diagramme auf. Die Räume und Volumina sind durch den Steuerungsglauben der Planer vollständig in die Funktionale gerutscht und geben nichts von der kommenden Realität wieder. Gegen diesen Anschauungsverlust hat der Berliner Architekturredakteur Ulrich Brinkmann eine ebenso unscheinbare wie sensationelle Bilderwelt entdeckt, die schon früh zeigte, wie damals die Welt von morgen aussah.
Mit über 200 Postkarten deutscher Nachkriegsstädte in West und Ost entfaltet Brinkmann ein Crescendo des Schreckens der autogerechten Stadt. Diese ästhetische Lumpensammlerei trägt weitgehend Dokumente ohne Autor zusammen, die fast an Heinrich Wölfflins Stilkunde einer „Kunstgeschichte ohne Namen“ heranreicht. Kleinverlage, Souvenirhändler, Hobbyfotografen und Kommunalverwaltungen stellten Ansichtskarten von ihren erneuerten Städten her, die wie Reiseandenken versendet wurden: aufgerissene Stadteingänge mit Schnellstraßen, Durchbrüche in historischen Altstädten, Riesenkreuzungen mit Tunnel- und Brückensystemen.
Auffällig an den frisch planierten Stadtglatzen und Kaltluftschneisen ist ihre Leere. Nur wenige Autos und Passanten stören die Ruhe dieser Freiflächen, die als „Verkehrserwartungsland“ (Brinkmann) der Massenmotorisierung entgegenträumen. Mit Vorliebe wählten die Fotografen ihre Perspektiven von der Mitte der Fahrbahnen aus, weil sie noch nicht Gefahr liefen, von Blechlawinen überrollt zu werden. Und fröhlich strahlen die ersten VW-Käfer, Ford-„Badewannen“ und Opel-Kadetts in allen Bonbonfarben im Gegensatz zu den schwarz-weiß-silbernen Standard-Karosserien heute, die mit der Tristesse von Kondolenz-Flotten durch die Städte ziehen.
Das Eindringen der Peripherie ins Zentrum
Nach Brinkmanns köstlichem Postkarten-Buch 2020 über die Fußgängerzonen im Wiederaufbau („Achtung vor dem Blumenkübel“) zeigt er nun die bittere Koevolution der dazugehörigen Verkehrswege. Straßen versteht er nicht bloß als Funktionselemente, sondern als gesellschaftliche Repräsentationsräume. Und Postkarten, einst ein Leitmedium des touristischen Blicks, adeln die ästhetisch unterkomplexen Autoschneisen und Abstandsflächen zu Sehenswürdigkeiten.
Schon das erste Kapitel „Marktplatz wird Parkplatz“ über die Stadtplätze in Frankfurt am Main, Ingolstadt, Waren, Dortmund, Hildesheim sowie im ostdeutschen Wismar oder Brandenburg schildert, wie sorgfältig choreographiert die Autos zwischen den reparierten Altstadtfassaden parkten. Die guten Stuben der Städte dienten offenbar nicht bloß als Provisorien für spätere Hoch- und Tiefgaragen, sondern als Stadtkronen und Zeremonialräume zur Feier des Autos als schönster Errungenschaft der Aufbaujahre.
Ebenso stolz zeigen die Karten, mit welch rabiaten Durchbrüchen die Infrastrukturen der Peripherie ins Zentrum drängten. Das ergab zuweilen noch halbwegs fassbare Stadträume wie die Lange Straße in Rostock, die Kampstraße in Dortmund oder die Berliner Straße in Frankfurt am Main, die von Fassadenwänden und Gehsteigen eingefasst sind. Doch bei der Ost-West-Straße in Hamburg oder der Leningrader (heute Petersburger) Straße in Dresden wurde jeder Bezug von Haus und Straße aufgegeben. Die Autoschneisen berühren nur noch zufällig ihre Randbebauung, Orientierung bieten allein die Fahrbahnmarkierungen und Wegweiser. Raumfressend kommen schräg gestellte Parkbuchten mit eigenen Rangierspuren und Grünstreifen in der Fahrbahnmitte hinzu, die die Gehwege verdrängen und jede Eigenräumlichkeit zerstören.
Der Wahnsinn hat bis heute Methode
Brinkmanns Sammlung lässt sich wie ein Stammbaum der urbanen Degeneration lesen. Erst wachsen die linearen Kreuzungen zu den flächigen Kreisverkehren, dann geht es mit Überführungen und Straßentrögen in die Vertikale, und schließlich werden die Passanten in den B-Ebenen der Republik wie Ratten in der Kanalisation vertunnelt etwa an der Frankfurter Hauptwache, der Hannoveraner „Passerelle“ oder im Bonner „Loch“.
Selbst bei brutalen Kahlschlägen von Ulm bis Berlin plädiert Brinkmann mit etwas modischer konservatorischer Empfindsamkeit für sorgfältigen Umgang mit diesen Schlachtfeldern der Nachkriegsmoderne. Leider fehlen den meisten Karten die Jahresangaben. Durchweg falsch bleibt sein Narrativ, erst der Krieg habe die Tabula rasa für diesen radikalen Stadtumbau geschaffen; in Wahrheit gab es die größten Stadtzerstörungen im Neuaufbau nach 1945. Und hilfreich wäre ein Exkurs gewesen, dass dieser Wahnsinn bis heute Methode hat. Denn weiterhin gelten die „Richtlinien für die Anlage von Straßen“, die mit expansiven Regelquerschnitten, Kurvenradien und Neigungswinkeln eine in Paragraphen gegossene Anleitung zur Stadtzerstörung sind. Dabei hatte alles, wie die Ansichtskarten zeigen, so schön und friedlich angefangen.
Ulrich Brinkmann: „Vorsicht auf dem Wendehammer“. Die Straße als Element des Städtebaus. Ansichtspostkarten in der DDR und der Bundesrepublik 1949 bis 1989. DOM publishers, Berlin 2023. 288 S., Abb., br., 28,– €.